Ein gefaehrliches Buch - Die Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen by Christopher Krebs
Autor:Christopher Krebs
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
Herausgeber: DVA
veröffentlicht: 2013-03-17T23:00:00+00:00
Dies war der Geist, welcher der britischen Verfassung zugrunde lag. Montesquieu hatte beinahe zwei Jahre lang England bereist und dort die Kontrollmechanismen der konstitutionellen Monarchie des Landes studiert. Seine Begeisterung für diese Diversifizierung von Macht schlug sich in seinem Buch nieder, in dem er eine Darstellung ihrer Funktionsweise lieferte (die später trotz gewisser Ungenauigkeiten selbst in England als maßgeblich galt). Die Ursprünge dieses Systems konnte man, so behauptete er, in der Germania erwähnt finden, bei deren Lektüre sich herausstellte, dass »[d]ieses schöne System … in den Wäldern erfunden worden« war.10 Vom freien alten Deutschland vor Montesquieu zu sprechen hieß, über seine Freiheit von römischer Tyrannei zu reden: Die deutschen Humanisten betonten immer wieder mit großem Stolz, dass das germanische Volk stets frei von jeglicher Fremdherrschaft gewesen sei, und patriotische Sprachforscher gratulierten ihren Vorfahren dazu, dass sie fremde Truppen und ausländische Wörter abgewehrt hätten. Kaum jemand erwähnte die konstitutionelle Freiheit, die Tatsache, dass »alles mit Stimme, Wissen und Willen« des Volkes geschah, wie es ein deutscher Humanist mit ziemlich exzeptionellen Interessen formuliert hatte.11 Nachdem der Westfälische Friede den deutschen Fürsten und Kurfürsten 1648 die Unabhängigkeit garantiert hatte, wurden solche Stimmen noch seltener.
Montesquieu änderte das. In einer Fußnote zitierte er die Passage aus der Germania, die seiner Ansicht nach den Keim dieses Machtgleichgewichts enthielt: »Über geringfügigere Angelegenheiten entscheiden die führenden Männer, über bedeutendere alle, jedoch so, daß auch die Fragen, über die das Volk befindet, von den führenden Männern vorbehandelt werden.«12 Näher ging Montesquieu auf dieses Thema nicht ein. Ganz offensichtlich betrachtete er jedoch die Rolle der Volksversammlung bei der Entscheidungsfindung als eine Beschränkung für die Beschlussfassung der politischen Führer. An anderen Stellen seines Buchs interpretierte er Tacitus’ Äußerungen zur beschränkten Freiheit von Königen, zur Wahl von Führern nach erwiesenen Fähigkeiten und nicht aufgrund von Abstammung sowie das Erfordernis, über die Verhängung der Todesstrafe in Gegenwart des Volkes zu entscheiden, in ähnlicher Weise als Markenzeichen der germanischen Auffassung von Regierungsgewalt. In einem Zeitalter, in dem es an Freiheit mangelte, in dem sich absolute Herrscher an der Macht hielten, deutete Montesquieu die Germania als Entwurf einer freien Gesellschaft. Ungeachtet seiner Beteuerungen waren diese philosophischen Gedanken über die Selbstherrschaft dem politischen Status quo mit Sicherheit »abträglich«, wie ein zeitgenössischer Leser rasch bemerkte.
Indem er dieses »schöne System« im Norden ansiedelte, definierte Montesquieu nicht nur die Freiheit von Fremdherrschaft um in eine Freiheit von absoluten Herrschern, sondern er modifizierte auch die traditionelle Lesart der Geografie: Politisch wurde der einstmals unwirtliche und abstoßende Norden, der sich nachteilig von den kultivierten und zivilen gemäßigteren Klimazonen abhob, zur Wiege der Freiheit. Viele zollten Beifall, andere widersprachen erzürnt. Vor allem Voltaire (1694–1778), ein dominierender Vertreter der Aufklärung und Briefpartner Friedrichs des Großen, stellte die sarkastische Frage, ob wohl das Oberhaus und das Unterhaus ebenfalls aus dem Schwarzwald gekommen seien. Vielleicht stammten sogar die englischen Baumwollfabriken von dort, auch wenn Tacitus berichtete, dass die alten Deutschen lieber auf Beutezüge gingen, als für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten? Voltaire teilte auch nicht den Glauben Montesquieus an den germanischen Ursprung der Franzosen: Wer waren,
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